Unsere Partei besteht aus uns allen und wird bestehen – denn sie wird gebraucht!
Liebe Genossin, lieber Genosse,
seit ich mich zurückerinnern kann, war ich immer an jedem zweiten Sonntag des Januars in Berlin-Friedrichsfelde: zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum Erinnern an die Vorkämpfer der Linken. Karl und Rosa – ein fester Termin in meinem Kalender. Auch heute noch.
Was ich in all den Jahren immer wieder gesehen habe, als Kind nicht verstand und auch heute nach wie vor nicht verstehe, sind die diversen linken Gruppen, Strömungen, Bewegungen, Parteien, die dort bei Karl und Rosa ihre Flaggen und Transparente hissten und hissen. Links wollen sie alle sein, manche linker als links. Ob MLPD, DKP, Trotzkisten, Kommunisten mit Mao-Bannern, linke Kräfte aus dem Arabischen Raum und wie sie noch alle heißen. Alle kochen ihr eigenes, kleines Süppchen. Alle haben vermeintlich die alleinige Wahrheit und wissen, wie links geht – und wo die Fehler der anderen, nicht links genug stehenden, liegen. Ja, seit Jahrhunderten ist die Linke in Deutschland, in Europa, gut darin, sich gegenseitig zu belehren, zu beschuldigen, zu schwächen, sich klein zu halten – oder sogar noch selbstständig in die politische Bedeutungslosigkeit zu befördern.
Die Internationale ruft zur Einigkeit auf, das Kommunistische Manifest ruft zur Einigkeit auf. Und doch, im Jahr 2023 sind wir wieder an einem historischen Moment, wo die Linke in Deutschland schwächer werden wird – bei gleichzeitigem Erstarken der Rechten. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber Geschichte verläuft in Parallelen, wenn man nicht aus früheren Fehlern und Ereignissen lernt.
Wir befinden uns gegenwärtig in einer angespannten gesellschaftlichen und politischen Situation. Sie ist gekennzeichnet durch Kriege, Inflation, Demokratieabbau, durch Klimawandel und Umweltverschmutzung. Das Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die sozialen Sicherungssysteme entsprechen nicht mehr den Erfordernissen. Die Menschen sind verunsichert, werden massiv von Geldsorgen und Existenzängsten geplagt, sehen ihre persönliche Lebensqualität gefährdet. Viele fühlen sich den Krisenprozessen passiv ausgeliefert, beklagen sich über die Abgehobenheit der Politiker*innen, die für die Sorgen und Nöte der Menschen vor Ort kein Gehör mehr hätten. DIE LINKE wird von immer mehr Wählerinnen und Wählern mit ihren Positionen und Vorschlägen kaum noch wahrgenommen. Die Rechte und rechtsextreme Parteien gewinnen an Einfluss.
In dieser Situation hat eine ehemals prominente Vertreterin unserer Partei die Gründung einer konkurrierenden Partei angekündigt. Es handelt sich um Sahra Wagenknecht, die inzwischen aus unserer Partei DIE LINKE ausgetreten ist. In Vorbereitung ihrer Parteineugründung hat sie den Verein BSW („Bündnis Sahra Wagenknecht“) ins Leben gerufen.
Ihren Vorwurf, es sei nicht mehr klar gewesen, wofür DIE LINKE stünde, lasse ich zum Teil durchgehen. Ja, wir waren inhaltlich kaum noch öffentlich vernehmbar. Wir wirkten zerstritten, weil es über Monate nur noch einzig das Thema Sahra und die mögliche Trennung gab. Aber ist dieser Eindruck der Zerstrittenheit in der Parteiführung, in den Gremien und Parteitagen, bei uns Mitgliedern, die sich an Beschlüsse und Programme halten und diese demokratisch ausgestalten wollen, jetzt noch zu halten? Oder ist das diffuse Bild der LINKEN primär Sahra zuzuschreiben, die sich durch Widerspruch zu den Vorgenannten hervortat und lediglich ihre eigenen Linie verfolgt?
Wenn nun der Einwand kommt, dass Sahra inhaltlich eine klare Linie anbiete, so habe ich meine Zweifel. Auf ihrer Pressekonferenz am 23. Oktober wurde ein kurzes Papier mit Zwischenüberschriften vorgestellt. „Wirtschaftliche Vernunft“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Freiheit“. Bei welcher dieser Punkte kann man uns LINKEN eine mangelnde Klarheit bzw. fehlende politische Positionierung vorwerfen? Warum muss man dann unsere Partei verlassen?
In besagter Pressekonferenz sprach Sahra davon, dass es ihr um die "Fleißigen", die Unzufriedenen, die jeden Morgen aufstehen, um den "erfolgreichen, innovativen Mittelstand" gehe. Und das trifft auf DIE LINKE nicht zu? Sahra kritisiert zu viel Bürokratie, schlechte Infrastruktur, das Schulchaos durch 16 Länderschulgesetze – ich frage Dich und mich: zu welchem dieser Probleme hat unsere Partei geschwiegen oder keine Lösungsansätze parat? Alles in allem: Warum brauchen Sahra und ihre Getreuen wirklich eine neue Partei?
Sahra und einige ihrer Vertrauten haben unsere Partei verlassen, wollen aber bis zur Neugründung ihrer Partei in der Bundestagsfraktion der LINKEN bleiben. Fakt ist, Sahra und ihre Mitstreiter*innen verdanken ihr Mandat im Parlament unserer Partei und den engagierten Wahlkämpfen von uns Mitgliedern. Sie haben ihre Mandate nicht direkt gewonnen, sondern sind in den Bundestag eingezogen, weil Parteimitglieder wie Du und ich sie auf Landeslisten unserer LINKEN zur Bundestagswahl gewählt haben. Und weil Bürger*innen dann zur Bundestagswahl ihr Wahlkreuz bei unserer Partei gesetzt haben.
Wer dann mit der LINKEN bricht, kann nicht das von der LINKEN gewonnene Mandat behalten. Wenn ich mit der LINKEN brechen will, dann bitte vollständig. Sonst wirkt es, und ich übernehme hier die Wortwahl von unseren einzigen drei Direktmandatlern Gesine Lötzsch, Gregor Gysi und Sören Pellmann, wie „Diebstahl“. Es ist moralisch verwerflich, sein Mandat der LINKEN zu verdanken und dieses Mandat nun zur Spaltung der LINKEN zu nutzen. Aber wer im Bundestag sitzt, bekommt nicht nur monatlich rund 15.000 EUR, sondern auch größere mediale Aufmerksamkeit. Und das wiederum erscheint mir bei Sahra und ihren Getreuen von größtem Interesse zu sein. Dies dann aber zum Nachteil der bisherigen Partei bzw. Fraktion zu nutzen, halte ich für inakzeptabel. Das hat mit solidarischem Umgang nichts mehr zu tun.
Sahra und ihre Getreuen nutzten die Infrastruktur unserer Partei und Bundestagsfraktion zum Aufbau ihres Konkurrenzprojektes. Sie nutzen die Möglichkeiten, die ihnen aus durch DIE LINKE gewonnenen Mandaten gegeben werden, und befördern ein Konkurrenzprojekt. Sie verhalten sich parteischädigend und fühlen sich an Beschlüsse der Gremien der Partei nicht gebunden. Die innere Parteidemokratie wird nicht akzeptiert. Versteht mich bitte nicht falsch. Man kann in unserer Partei durchaus unterschiedlicher Auffassung sein. Davon lebt die politische Kultur, leben der politische Streit und das Ringen um die beste Position in unserer Partei. Aber demokratisch gefasste Beschlüsse sind dann entschieden und sollten nicht unter Dauerfeuer genommen werden, nur, weil sie einem nicht passen.
Sahra nahm unsere Partei seit Monaten in Geiselhaft. Wir wurden „am Nasenring durch die Manege geführt“. Unsere politischen Gegner betrachteten die Vorgänge mit Wohlwollen. Die gegen uns eingestellte bürgerliche Presse zog uns genüsslich durch den Kakao. Wenn es um DIE LINKE ging, ging es nur noch um Sahra, ihre Kritik an unserem gewählten Parteivorstand und um ihr Parteiprojekt. Alle inhaltlichen Punkte, alle unsere guten Initiativen als linke Opposition – und glaubt mir, diese gibt es und sie sind bitter nötig bei den derzeitigen Regierungen in EU, Bund und Land – wurden durch die anderen Parteien und die Medien schlichtweg negiert. Denn DIE LINKE beschäftigte sich ja nur mit sich selbst, sei zerstritten, uneins und sowieso kurz vor der politischen Bedeutungslosigkeit.
Ich will nicht behaupten, dass unsere Parteiführungen in den letzten Jahren alles richtig gemacht haben. Bei weitem nicht. Vor allem gelang es nicht, grundlegende programmatische Inhalte in wirksame strategische Orientierungen umzusetzen. Inhaltliche Debatten wurden nicht zu Ende geführt, Kontroversen innerhalb der Partei inhaltlich nicht ausgetragen.
Aber das, was Sahra mit uns, mit ihren Genoss*innen macht, ist Profilierung auf unser aller Kosten. Sie sucht vor allem Aufmerksamkeit und Raum zur Selbstdarstellung. Sie lebt davon und verdient daran. Ob als Gast in Talkshows oder Autorin zahlreicher Bücher. Hier spricht aus mir nicht der Neid. Es ist mir egal. Nur soll sie nicht ständig versuchen, sich im Namen und auf Kosten der LINKEN gegen DIE LINKE zu profilieren.
Fest steht: Wirksame politische Arbeit in Sahras Verein und möglicher Partei ergibt sich nicht allein aus Talkshows, Demonstrationen oder Buchlesungen. Für eine wirksame politische Arbeit reicht es nicht aus, dass sich eine Gruppe um eine prominente Person scharrt. Eine Bewegung, die auf Personenkult setzt, hat in der Geschichte selten positiv gewirkt oder gar Verbesserungen erreicht. Es ist vor allem die Arbeit vor Ort, für und konkret mit den Menschen, die zählt.
Liebe Genossinnen und Genossen,
im Gründungsmanifest des Vereins BSW tauchen Begriffe wie links, sozialistisch, Kapitalismus, neoliberale Ausbeutung, Klasse, Gewerkschaft, nicht auf. Die Systemfrage wird nicht gestellt. Inhalte werden sehr vage formuliert. Konkrete Vorschläge, wie man an die Lösung aktueller Problemfelder herangehen will, sucht man vergebens. Gregor Gysi sieht in diesem Gründungsmanifest eine Mischung von Sozialpolitik wie bei der LINKEN, einer Wirtschaftspolitik wie bei Ludwig Erhard und einer Flüchtlingspolitik wie bei der AfD.
Programmatisch hält unsere Partei an der Orientierung auf einen demokratischen Sozialismus fest. Und wir sollten uns durchaus an das „strategische Dreieck“ erinnern, mit dem wir erklären, wozu es unserer Partei in der Gesellschaft überhaupt bedarf. Demnach wollen wir regierend mitgestalten, protestierend opponieren und zugleich Alternativen über den Kapitalismus hinaus entwickeln. In diesem Sinne formulierte unser Parteivorstand erst kürzlich: „DIE LINKE verbindet viele unterschiedliche Traditionen und Erfahrungen. Wir stellen die Eigentumsfrage und kämpfen für soziale Gerechtigkeit. Wir stellen die Profitorientierung in Frage und stellen den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Wirtschaft. Wir wollen die Unternehmen der Daseinsversorgung in Gemeineigentum mit demokratischer Kontrolle überführen. Wir unterstützen die Gewerkschaften bei ihrem Kampf um gute Löhne und gute Arbeit. Wir wollen Armut abschaffen. Wir zeigen klare Kante gegen rechts und verteidigen Demokratie und Menschenrechte – für alle und überall. Wir setzen uns ein für Abrüstung und Frieden statt für Rüstungsexporte und eine neue Blockkonfrontation.“
Was fehlt noch – oder anders: womit davon hat Sahra ein Problem?
Ja, die Abspaltung und Gründung einer neuen Sahra-Wagenknecht-Partei wird unsere Partei schwächen. Auch die Linke in Deutschland insgesamt wird geschwächt werden. Profitieren werden die Rechten. In der aktuellen Zeit braucht es eine starke Linke. Wir als LINKE sind nun die letzte relevante Partei ohne ablehnende Haltung zu Flucht und Asyl. Damit sind und werden wir (aktuell) keine Massenpartei. Aber bleiben eine dem Humanismus verpflichtete Partei. Wir haben ein Programm und Ziele mit einer positiven Vision der Welt. Wir schüren keine Ängste.
Meine Bitte an euch alle: Lasst uns nach vorne schauen! Es geht um mehr, als um die Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht und ihrer Parteigründung. Wenden wir uns vor allem den Menschen da draußen zu, hören wir auf mit unserer Selbstbeschäftigung! Seien wir für die Leute da. In Brandenburg sind WIR nach wie vor an der Seite der Menschen, nehmen ihre Sorgen und Ängste ernst, kümmern uns um konkrete Probleme, leisten Hilfe und suchen nach machbaren Lösungen. Und immer mit im Blick das Bestreben zu einer gerechteren, menschlicheren und friedlicheren Gesellschaft.
Das kommende Jahr wird mit Europa-, Kommunal- und Landtagswahl herausfordernder denn je für unsere Partei. 2025 ist dann Bundestagswahl. Wir kämpfen um jede Stimme. Und ich glaube an DIE LINKE! Natürlich sind wir nicht mehr die linke Partei, die wir Anfang der 1990er Jahre waren. Das geht schon rein biologisch nicht. Und natürlich hat sich auch die Welt weitergedreht. Neue Herausforderungen und Fragen sind aufgekommen, die Antworten verlangen. Die Menschen wollen von uns Antworten auf Fragen ihre Zukunft betreffend. Wenn wir uns in unserer Politik nicht für die Menschen interessieren, warum sollen sich dann die Menschen für Politik interessieren? Eine global vernetzte Menschheit, ein vereintes Europa will Antworten, die nicht in Abschottung und Nationalismus liegen können.
Ich kenne nicht die Antworten auf alle Fragen. Nicht auf alle schon gestellten, schon gar nicht auf all die noch kommenden. Aber was ich weiß: Wir müssen uns auf heutige Fragen und Aufgaben einlassen, darauf konkret reagieren, Vorschläge unterbreiten und Lösungswege aufzeigen – sonst verschwinden wir.
Wir brauchen jetzt und sofort eine besondere Anstrengung für eine lebendige Parteiarbeit. Es reicht meiner Meinung nach nicht, wenn wir lediglich auf Versammlungen zusammenkommen. Wichtig ist auch der regelmäßige Gedankenaustausch unter Genoss*innen in kleinerem Kreis. Wir benötigen die Verständigung zu all den Fragen, die die Menschen vor Ort bewegen und wie wir mit unseren Argumenten darauf wirksam reagieren können. Ihr kennt doch noch den Spruch: „Wo ein Genosse ist, ist die Partei!“ Wie, wann, wo gehen wir als Genoss*innen auf unsere Mitbürger*innen zu, suchen das Gespräch, bieten Hilfe und Unterstützung an? Über all diese Fragen und Probleme sollten wir uns ab jetzt in unseren Ortsverbänden und Basisorganisationen verständigen. All das muss organisiert werden. Wir brauchen einen Schub in Richtung mehr Ausstrahlungskraft unserer Partei im Alltag.
Ich schreibe Euch diese Zeilen, weil ich mir als Vorsitzender eines Kreisverbandes der LINKEN Sorgen mache. Um unsere Partei, um uns alle. Ich will Euch zu nichts überreden. Ihr müsst aus innerer Überzeugung entscheiden. Wer gehen will, muss gehen. Für mich jedenfalls gilt der Vorsatz: In eine sozialistische Partei tritt man ein, aber nicht aus! Ich möchte Euch zum Nachdenken aufrufen. Wir haben als Linke eine historische Verantwortung. Wir haben mit der Vereinigung von ostdeutscher PDS und westdeutscher WASG im Jahr 2007 ein historisches Projekt gestartet und eine Jahrhundertaufgabe angenommen: eine vereinigte Linke in Ost und West. Karl und Rosa wären stolz auf uns. Vergeigen wir es nicht.
Sozialistische und vor allem solidarische Grüße – stehen und bleiben wir zusammen!